Vinzent und Julia : Norbert Bayer

Norbert Bayer
«Vinzent und Julia»

Meine Großmutter war eine begnadete Häklerin – noch als sie im Rollstuhl saß und gar nicht mehr richtig sehen konnte, musste ich ihr als Teenager die Anleitung für die jeweilige Runde vorlesen und so häkelte sie immer neue Tischläufer und weitere Deckchen. «Freiburg» heißt der erste Song des Albums «Digital ist besser» von Tocotronic aus dem Jahr 1995 – ein prägendes Album für mich und viele meiner Generation. Im Jahr 2022 habe ich nach mehreren Jahrzehnten freiwilliger Pause die Band endlich in ihrer ehemaligen Wahlheimat Hamburg gesehen. Als Vorbereitung hörte ich mir die frühen Alben wieder an und während ich mitsang – und zwischendurch heulte – häkelte ich fleißig Topflappen.
In Hamburg traf ich mich mit Leuten zum Konzert. Eine Freundin wollte unbedingt «die Tocotronic-Topflappen» haben. Zurück in Berlin bekam sie das gleiche Modell, aber in anderen Farben von mir geschickt. Als Dankeschön bekam ich von ihr ein Set Topflappen, das sie in einem DRK-Shop vor den Toren Hamburgs für mich ergattert hatte. Ich war sehr überrascht und freute mich riesig.
Als Manuel Kirsch mich zur Austellung in der ehemaligen Wohnung seiner Großmutter einlud, die über ein Jahrhundert alt wurde, dachte ich darüber nach, was das letzte Jahrhundert für mich definierte: Der Konsum, der unaufhörlich anzusteigen und keine Grenzen zu kennen schien. Mehr Produkte in neuen Materialien aus neuen Rohstoffen, immer neue und mehr davon und deren stetiger Verbrauch. Und damit als Kehrseite der Konsumzwang, die Ausbeutung für die Güterproduktion und darüber hinaus Limitierung und Ausgrenzung.
So entschied ich mich als Werke für «Ausleben» für aus Plastiktüten gehäkelte Topflappen. Tüten zur Mitnahme von Einkäufen und Müllbeutel für das, was wir wegschaffen und aus unserem Leben ausräumen. Gehäkelt zu eben jenem Modell, das mir meine Arbeitskollegin als Dank für meine Topflappen schenkte. Eine Fantasie aus geschwungenen Bändern, deren Häkelanleitung man in vielen Varianten findet. Einige würden es gar ein «topologisches Experiment» nennen. Ich nenne das ungleiche Pärchen «Vinzent und Julia» – nach den Firmen der von mir ausgewählten Plastiktüten. Es sind zwei Stücke aus festen Maschen zu Schleifen gehäkelt, die so mäandern wie dieser Text darüber.

Norbert Bayer
«Vinzent und Julia»
2023
Kunststoff
Durchmesser je 130 cm

Fotos: Marlene Burz
Installationsansichten
«Ausleben», Freiburg, März 2023

«Ausleben»

Gruppenausstellung kuratiert von Manuel Kirsch

Ellinor Aurora Aasgaard & Zayne Armstrong, Michelle Alperin, Norbert Bayer, Florian Birk, Sascha Brylla, Marlene Zoë Burz, Matthias Dornfeld, Elmgreen & Dragset, Rudolf Enderlein, Ethan Hayes-Chute, Okka-Esther Hungerbühler, Manuel Kirsch, Dafna Maimon, Klaus Merkel, Claudia & Julia Müller, Joe Neave, Anne Neukamp, Elizabeth Ravn, Lennart Rieder, Michael E. Smith, Björn Streeck, Caro Suerkemper, Young-Jun Tak, Ina Weber, Barbara Wille