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1999-2023

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Neues Licht auf alte Dinge
Natalie Ital und ihre Fotogramme

von Norbert Bayer

Wenn Kunst eine Art der Kommunikation mit den Toten ist, wie mein Professor Yariv Alter Fin es formulierte, was liegt näher als mit einem Beitrag über Verstorbene zu beginnen?

Natalie Ital war eine Fotografin, die für ihre Fotogramme bekannt ist, und mit der ich in Kassel zusammen lebte – wohnte wäre zu kurz gegriffen. Für ihre Fotogramme baute sie oft ihr Zimmer in unserer Wohngemeinschaft um, d.h. sie verhängte die Fenster und klebte jede Ritze zu, damit kein Licht eindringen konnte, wenn sie ihre großformatigen Bilder belichtete. Auf dem Boden wurde ein Bogen Fotopapier ausgelegt. Man legte sich darauf zu Plastikobjekten und bunten Folien und blieb ein paar Sekunden lang liegen. Sie lief mit ein paar Lampen um einen herum und beleuchtete von verschieden Seiten. Nach der Belichtung durfte man wieder aufstehen, musste aber natürlich erst warten, bis Natalie das Papier wieder zusammengerollt und in eine Rolle gequetscht und zugeklebt hatte. Diese Geschicklichkeit hatte sie sich über die Jahre hinweg zugelegt, nur ganz selten ging etwas schief.

Als wir schon in Berlin wohnten – dann allerdings nicht mehr zusammen – lud sie mich abermals ein, diesmal für ein Portrait. [Mein Telefon klingelt während des Schreibens: Eine Versicherung ruft an, ob ich mal über die Sterbeversicherung nachgedacht hätte? Ich behaupte, dass ich in der Hinsicht abgesichert bin.] Dafür musste ich diesmal nur meinen Kopf auf das Fotopapier auf dem Tisch ablegen, das für ein paar Sekunden belichtet wurde. Schwierig wurde dies durch meine Brille, aber es ging. Zumindest lag in dieser Variante kein Flitter um einen herum.

Über ihr erstes Fotogramm schreibt Natalie: «an mein erstes fotogramm kann ich mich besser erinnern als an mein letztes. […] meine vorbereitung bestand aus einer auswahl von dingen, die ohnehin bisher unbrauchbar waren. eine bunte transparente schallplatte, die man nicht hören konnte, und ein glas selbstgemachten gelee, den man nicht essen konnte. instinktiv habe ich diese beiden dinge mit einer belichtung auf ein 18×24 papier vereint. anschließend in eine geschlossene maschine, mit der schicht nach unten gesteckt. die maschine musste man zuvor nur durch einen knopfdruck anstellen und richtig temperieren, was ich im eifer zunächst vergessen hatte. was innerhalb dieser maschine vorging, konnte ich mir nur vorstellen. ca nach 10 minuten schob sich mein papier fertig entwickelt mit der schicht nach unten wieder in das raumlicht. das ergebnis war sichtbar und farbig. der rote gelee war blau und die bunte schallplatte wieder bunt. die dinge waren in einer neuen form erkennbar, weder zu schmecken, noch zu hören.»

Scheinbar Unbrauchbares brauchbar machen, das war Natalies Prinzip. Bloß nichts wegschmeissen, denn man könnte es irgendwann nochmal brauchen. Alles wurde aufgehoben und verstaut. Nur wenige Fleckchen blieben weiß oder unbehängt, alles wurde ausgenutzt, sogar im Bad. So war ihre Wohnung über die Jahre zu einem Gesamtkunstwerk geworden, in das man aufgenommen und aufgesogen wurde, sobald man sie betrat. Man konnte nicht entkommen. Überall Fotos, Fotogramme, Farbkopien, dazwischen frühe Malereien von ihr oder aus Plüsch Genähtes oder damit Gerahmtes oder Beklebtes. Am Besten vom 1-Euro-Shop – mindestens aber alles aus Plastik. Souvenirs von Reisen durch die USA, Wimpel von den Staaten und darüber Tourplakate von den Stones und Cramps. Als ich mehr als 20 Euro für ein Festnetztelefon ausgegeben hatte, weil mir das teuere Modell besser gefallen hatte, hieß es: «Ich würde nur das Billigste nehmen, denn das beklebe ich ja sowieso!» War auch tatsächlich so, mit Leopardenfellmuster.

Was nicht passte, wurde passend gemacht. Mit Kleber, Cutter und Tacker. Falsche Ehrfurcht vor handwerklichem Geschick gab es bei ihr nicht – alles ist machbar, wenn man es nur will. Technik war kein Konzept, das per se einen Wert gehabt hätte, nur das Ergebnis zählte. So gesehen erscheint es nur logisch, dass ihr künstlerisches Werk sich einer möglichst simplen Technik und günstigen Alltagsmaterialien bediente, diese zu einer eigenen Ausdrucksform stilisierte und zu ihrem Markenzeichen machte.

Das letzte Foto, das ich von Natalie erhielt, war nach einem Fallschirmsprung aufgenommen worden, den sie kurz vor ihrem Tod vor nunmehr fast fünf Jahren noch gemacht hatte. Die Perspektive zu wechseln, von oben auf die Dinge zu schauen und sie entweder ganz neu auszuleuchten, aber mindestens zu hinterfragen – darin blieb sie sich bis zuletzt treu.